Es gibt keine „Flüchtlingskrise“!
Es gibt keine „Flüchtlingskrise“!
Entgegen den Forderungen, die Geflüchtete in Deutschland während der Proteste der letzten Jahre immer lauter stellten – gegen die katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern, gegen Sach- statt Geldleistungen für Asylbewerber*innen, gegen Abschiebehaft und die Praxis rassistischer Kontrollen – sind wir heute erneut mit einer permanenten Verschärfung der deutschen Asylrechtsgesetzgebung konfrontiert.
Gerechtfertigt werden diese mit der „Flüchtlingskrise“, die skizziert
wird als die Überforderung der Behörden und des staatlichen
Versorgungssystems angesichts der hohen und stetig steigenden Zahlen an
Menschen, die versuchen, in Deutschland Asyl zu beantragen. Und
tatsächlich ist der krisenhafte Zustand, in den sich der deutsche Staat
mit Tatenlosigkeit und seinem katastrophal überbürokratisierten und
mangelhaftem System zur menschenwürdigen Flüchtlingsversorgung
manövriert hat, nicht von der Hand zu weisen.
Doch dies ist keine durch Geflüchtete ausgelöste Krise, es sind nur sie,
die darunter leiden. Und was hier in den Fokus gerückt wird, ist nur ein
Bruchteil der eigentlichen Krise von Flucht und Migration, die darin
besteht, dass sich momentan knapp 60 Millionen Menschen weltweit auf der
Flucht befinden, dass dabei tagtäglich unerträglich Viele ihr Leben
verlieren, weil freie Migrationsbewegungen unterbunden werden und alle
sicheren Zugangswege nach Europa behindert werden. Angefangen mit einer
Visa-Politik, die Menschen insbesondere aus dem nicht-europäischen Raum
ihre „Rückkehrwilligkeit“ nachweisen lässt, über das oft
menschrechtsverletzende Vorgehen bei Asylverfahren, die schleichende und
beamtlicher Wohlgesonnenheit unterworfene Bearbeitung von „Fällen“,
Abschiebungen, Inhaftierungen, bis hin zu Abschottungszäunen, die an
Grenzen in ganz Europa hochgezogen werden, gewalttätigen Übergriffe
durch FRONTEX, nationale Polizei? und Armeen, sowie völkerrechtswidrige
„Push Backs“ an allen EU-Außengrenzen – eine nicht enden wollende
Liste, die zeigt, in welchem Maße die Menschen, die versuchen nach
Europa zu migrieren/flüchten, politischer Willkür und staatlicher Gewalt
ausgesetzt sind.
Gepaart mit politischen Regelungen, wie der Ausweitung von Dublin III
und weitere Deklarierungen von sogenannten sicheren Herkunftsländern,
vermehrt geschlossenen Rückführungsabkommen, mit denen alle europäischen
Staaten an Restriktionen und Verschärfungen arbeiten, wird eindeutig,
dass das allseits geforderte „schnelle Handeln in der Krise“ nicht zum
Ziel hat, sich der Not, den Bedürfnissen, Wünschen und Anliegen der
Geflüchteten anzunehmen, oder sich an diesen auszurichten. Ganz im
Gegenteil dazu agiert die Politik im Sinne
kapitalistisch-nationalistischer Standortinteressen, während zugleich
die katastrophale Situation zu einer Krise der europäischen Staaten
stilisiert (wird?) und somit diese als eigentliche Opfer der
Flüchtlingsbewegungen inszeniert.
Nahezu alle Medien verhandeln tagtäglich Dimensionen der sogenannten
„Flüchtlingskrise“. Neben rechten Zeitungen, welchen das Bild des
„überlasteten“ deutschen Staates bei ihren Verleumdungen und ihrer
rassistischen Hetze in die Hände spielt, verhandelt die Presse das Thema
zunehmend vielfältig und „den Flüchtlingen“ überraschend zugewandt.
Darin, immer wieder gehört: das in hohen Tönen gelobte Aufblühen einer
deutschen „Willkommenskultur“. Frei nach dem Motto „Jetzt sind wir alle
gefordert“ formiert sich direkt aus der bürgerlichen Mitte „Solidarität“
mit Flüchtenden in einem bisher nicht dagewesenen Maße:
Willkommensinitiativen und selbstorganisierte humanitäre Hilfe
angesichts der „Krise“ staatlichen Versagens.
Und dies scheint nicht im Widerspruch zu den zur gleichen Zeit
zunehmenden rassistischen Mobilisierungen und Übergriffen zu stehen –
Medien berichten täglich von Brandanschlägen auf
Asylbewerber*innen-Unterkünfte und die Zahl der Übergriffe steigt ins
Unermessliche. Auch wenn nicht erst PEGIDA und andere neue rechte
Bewegungen rassistisch-patriotische Deutungsmuster im Mainstream
salonfähig gemacht haben – das laufende Jahr zeichnet eine neue
Hoch-Zeit rassistischer Normalität ab.
Gibt sich die deutsche politische Öffentlichkeit zwar empört über rechte
Gewalt und übt sich in Mitleidsbekundungen für die Situation der
Geflüchteten im Allgemeinen, sind es gleichzeitig eben ihre Äußerungen,
angefangen beim verwendeten Vokabular, mit denen sie sich selbst rechter
patriotisch-rassistischer Ressentiments bedient:
„Es sind Assoziationen von Chaos und Bedrohung, die in die Debatte um
Flucht und Migration einfließen. Die Wasser-Metaphorik spielt eine ganz
entscheidende Rolle, Flut, Abschottung, Eindämmen, Schleuser, „das Boot
ist voll“. Sie quantifiziert die Migration zu einem „Zuviel“. In letzter
Zeit kommt es auch zu einem verstärkten Rückgriff auf die
Militärmetaphorik. Die Rede ist dabei von „Militarisierung der
Grenzen“, der „Abwehr illegaler Einwanderer“ und der „Bekämpfung der
Schleuserkriminalität“.“ (Prothmann, Sebastian: „Wenn die ihre Grenzen
so versperren, dann muss es da doch etwas geben!“ in: LoNam. Das
Afrika-Magazin. Nr.5/ 11. Jg., S. 22.)
Die Begründung der Verschärfung der Asylgesetzgebung wird in diesem
Sinne als ein Akt der Wiederherstellung von Ordnung und Regulation
präsentiert: schnellere Abschiebung von Menschen, Abschaffung
sogenannter falscher Anreize. Zudem werden mit binären Kategoriepaaren
wie beispielsweise jenes von „Kriegsflüchtlingen“ vs. „ökonomischen
Flüchtlingen“ entscheidende Abgrenzungen vorgenommen: die angenommenen
Fluchtmotive werden entweder als gut, weil echt und berechtigt, oder als
vermeintliche Gründe bewertet. „Einwanderung ist schließlich nur in
Maßen gut und verkraftbar“ wird in der herrschenden Auffassung zudem so
gut wie immer als unhinterfragbares Faktum zugrunde gelegt. Auch bedarf
die ebenso prädominante Haltung, Menschen nach ihrer Verwertbarkeit zu
betrachteten und dabei als beruflich qualifiziert eingestufte
Geflüchtete gegenüber anderen zu bevorzugen, offensichtlich nicht
einmal einer Rechtfertigung. Diese Haltung entspricht rassistischen
Argumentationsmustern und ist gleichzeitig die Basis für die verschärfte
Wirkmächtigkeit von angeblicher Angst vor Überfremdung und der
Konstruktion eines Bildes von Geflüchteten als „Sozialschmarotzer“, die
Sozialleistungen ausnutzen.
Letztlich lenkt der hegemoniale Diskurs davon ab, was gerade
staatlicherseits passiert: Damals wurde der selbstorganisierte Refugee-
Protest rhetorisch bekämpft, heute wird jede Form der Selbstorganisation
und jedes Sprechen seitens Geflüchteter verschwiegen. Ungeachtet dessen,
ob womöglich gerade die Berichte über die gesellschaftliche Solidarität
oder eine ablehnende Thematisierung gewaltbereiter rechter Straftäter
dominiert – es wird in keiner Weise zum Skandal gemacht, was Skandal
ist: aller freudigen Rhetorik und bemühten Bürokratie zum Trotz, wird
die staatliche Asylpolitik weiterhin und zuletzt beschleunigt
verschärft. Verschärft nach den rassistischen Interessen von Staat,
Nation und Kapital – humanitäre Perspektiven bleiben darin, als
strategische, sekundär. Eine kritische Reflexion der Verhältnisse ist
trotz dauerhafter Diskussion fast gänzlich erschwert.
Auf all diese Entwicklungen reagieren die verschiedenen Teile der
gesellschaftlichen Linken verhalten. Im Manövrieren zwischen klassischer
antifaschistischer Aktion – häufig zahlenmäßig begrenzt – dem Abarbeiten
an tagesaktuellen politischen Ereignissen und der trotz aller Kritik
notwendigen Unterstützung solidarischer Strukturen (beispielsweise
angesichts der Lage vor dem LaGeSo in Berlin), finden sich wenig Räume,
in denen Fragen nach einer angemessenen Praxis reflektiert und
erarbeitet werden können.
Vor diesem Hintergrund werden wir als LV Berlin der Falken im
kommenden Jahr das Thema Flucht und Migration zum Schwerpunkt sowohl
unserer politischen Bildungsarbeit, als auch unserer Reflexion über
sinnvolle Möglichkeiten zur politischen Intervention setzen:
Durch die permanente Berichterstattung sind Kinder und Jugendliche
momentan unweigerlich mit dem (hegemonialen Diskurs über das) Thema
Flucht und Migration konfrontiert. In Abhängigkeit von ihrem Zugang und
Kontakt mit Medien und von ihrem direkten sozialen Umfeld, werden ihnen
Einstellungen und Ressentiments vermittelt, die sie meist (auch aufgrund
der Vielzahl und Unübersichtlichkeit der Informationen) bewusst oder
unbewusst unreflektiert übernehmen. Umso entscheidender und dringlicher
ist unser Anliegen, ihnen eine kritische Perspektive und selbstständige
Auseinandersetzung mit dem Thema zu ermöglichen.
Den Diskurs hinterfragen!
Das bedeutet für uns zum einen, ihnen aufzuzeigen, dass die
Argumentationen im öffentlichen Raum zumeist auf Grundlage
kapitalistisch-nationalistischer Interessen geführt werden, und das
innerhalb des Systems diese Logik als Ausgangspunkt politischer
Überlegungen als gesellschaftlicher Konsens gilt. Wir müssen uns
entgegen dieses Konsenses kritisch mit der gesellschaftlichen Ideologie
von Staat, Nation und Kapital und ihrem inhärenten Zusammenhang zu
Rassismus und Kolonialismus auseinandersetzen. Denn nur so wird
verständlich, dass das Alles – also etwa die erwähnte Unterscheidung
von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen, sowie jene zwischen Nützlichen
(also potentieller Produktivkraft) und Habenichtsen – einer
systemimmanenten Logik folgt, in der versucht wird, das globale
Machtgefälle aufrecht zu erhalten. Dieses globale Machtgefälle ist es
auch, welches sich in der Süd-Nord - Migrationsbewegung widerspiegelt
und in seinen vielfältigen Formen Ausdruck eines postkolonialen
Verhältnisses ist. Es ist daher unweigerlich notwendig „Flucht und
Migration“ im Kontext einer Analyse des (Post-)Kolonialismus zu
betrachten.
Denn es sind gerade keine neuen oder plötzlichen Entwicklungen, die
die großen Flucht- und Migrationsbewegungen hervorrufen, nicht schlicht
„Krisen“ oder Kriege unterschiedlicher Couleur, hervorgerufen durch
autoritäre Regime in ökonomisch und oder politisch „rückständigen“
Ländern. Eine solche Betrachtung ist vielmehr eurozentristisch und
verkürzt. Die europäische „Vorherrschaft“ gibt es nur historisch
genesen durch den Kolonialismus. Somit sind die weißen europäischen
Hegemonieansprüche immer noch und erneut Ursache und Grund für das, was
als „Flüchtlingsströme“ stilisiert wird. Was als „Migrationspolitik“
diskutiert wird, ist in Wahrheit ein Ort, der ebenjene Ansprüche und
damit die rassistisch-postkoloniale kapitalistische Ordnung permanent
reproduziert.
Eine bewusste Amnesie
Die koloniale Vergangenheit kommt im Kontext der Debatten um Flucht und
Migration nie zur Sprache, dabei bildet diese die Grundlage für die
politischen, ökonomischen und kulturellen Machtverhältnisse, die bis
heute andauern, global wirksam sind und von denen der Globale Norden bis
heute profitiert. Der Kolonialismus ist keine Geschichte der
Vergangenheit, sondern Grundlage zahlreicher bis heute wirksamer
Kontinuitäten. Diese resultieren aus dem Kolonialismus als einem System
der gewaltsamen ökonomischen Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen und
durch die Realität von Massenmord, Zerstörung, Versklavung und
Vertreibung.
Beginnend im 15 Jahrhundert im Zuge einer Ausweitung des
kapitalistischen Systems und der Etablierung nationalstaatlicher Mächte
im europäischen Raum wurde der Globale Süden (Südamerika, Afrika, Asien,
Australien) durch diese besetzt – politische, religiöse und
gesellschaftliche Strukturen wurden dabei gewaltsam im Sinne
europäischer Interessen gestaltet und ökonomisch etabliert (bspw.
Durchsetzung einer am europäischen Absatzmarkt orientierten
landwirtschaftlichen Produktion). Insofern ist der Kolonialismus auch
mit dem langwierigen und hart umkämpften Prozess hin zur Unabhängigkeit
kolonialisierter Staaten nicht beendet – denn die Trennung und das
Ausbeutungsverhältnis zwischen kapitalistischem Zentrum und seiner
unterworfenen Peripherie bestehen bis heute in menschenfeindlicher Weise
fort.
„Die Jahrhunderte andauernde Ausbeutung des Globalen Südens sowie die
zunehmende Privatisierung von vorherigen Gemeingütern sowie die
Zerstörung kooperativer und kollektiver Strukturen auch in Europa
ermöglichte den wirtschaftlichen, militärischen und politischen
Aufstieg europäischer Staaten, die Industrialisierung in Europa und die
globale Etablierung des europäischen Kapitalismus.“
Beobachten wir demzufolge heute eine Süd-Nord Flucht-/Migrationsbewegung
ist diese unweigerlich Konsequenz der kolonialistischen Vergangenheit,
in der der Globale Süden um seine Stabilität gebracht wurde und das
rassistisch errichtete ökonomische Gefälle zu einem der Systematik
kapitalistischer Produktionsweise immanenten und bewusst aufrecht
erhaltenen wurde.
Indem dies unterschlagen wird, werden Kausalitäten aufgemacht, die die
Verhältnisse als Mangel und Unzulänglichkeit der politischen Situation
der „Herkunftsländer“ als solcher und letztlich als die der betroffenen
Menschen essentialisieren.
Statt das Schweigen zu brechen
Eurozentrische Narrativen werden im Diskurs über Flucht und Migration
auf diese Weise fortgesetzt und darin immer wieder postkoloniale Bilder
bedient. Denn neben ökonomischer Ausbeutung ist die Verbreitung
europäischer Wissenssysteme Dimension des Kolonialismus. Kulturelle,
religiöse – europäische Gewohnheiten und gesellschaftliche Strukturen
wurden als „richtig“ proklamiert und den Menschen übergeholfen, wobei
dort vorherrschende übergangen, abgewertet und zerstört wurden und bis
heute mit Bedeutungen/Gleichsetzung wie „rückständig“ etc. überlagert
sind.
In diesem Sinne ist auch die Diskussion um Kultur und Werte zu
verstehen, die im Rahmen der Begründung einer Abwehrhaltung
heraufbeschworen wird. Unabhängig davon wie die jeweiligen
kulturrassistischen Konstruktionen im Einzelnen funktionieren, werden
andere Kulturen konstruiert, die negativ stigmatisiert werden oder denen
gegenüber zumindest eine fundamentale Unvereinbarkeit ausgesprochen
wird.
Momentan werden auf diese Weise besonders „Überfremdungsängste“
geschürt, die gegenüber Migrant*innen/Geflüchteten arabischsprachiger
Länder und dem nordafrikanischen Raum einen antimuslimischen Rassismus
bestärken. Es gibt jedoch keine genuine Angst vor „dem Fremden“, aus der
rassistische Vorurteile entstehen, sondern einen gesellschaftlich und
individuell vorherrschende Rassismus, in dem eine Angst vor dem Fremden
- unabhängig von den Menschen selbst, die zur Projektionsfläche werden -
konstruiert wird.
Dass weiße Hegemonie internalisiert ist, zeigt sich bei Diskussionen um
Bewegungsfreiheit beispielsweise darin, dass die eigene Reisefreiheit,
ein Privileg weißer Europäer*innen, als Norm bzw. wenn dann als
verdiente Errungenschaft begriffen wird, während die Macht zur
Definition und der Einfluss auf Beschränkung der Bewegungsfreiheit
anderer Menschen keinerlei Erklärung bedarf und als
Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird.
Es wird sich mit dem angenommenen Zweck, die eigene (reiche) „Nation“ zu
schützen, mit Argumenten begnügt, die selbst schon Teil dieser
Vorherrschaft bilden. Diese Praxis der bewussten Nicht-Verhandlung
deutscher Kolonialgeschichte und Kontinuitäten benennt Kien Nghi Ha als
„Entinnern“:
„Daher ist das konsensuale Schweigen eine dominante Machtartikulation,
die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung imperialer Praktiken und
Bilder durch Entinnerung aktiv widersetzt.“ (Ha, Kien Nghi:
Mach(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft, in:
Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in
Deutschland. S. 105.)
Wir sollten uns daher als politischer Bildungsverband, der die Utopie
einer befreiten Gesellschaft vertritt und sich für eine kritische
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen
einsetzt, diesem Schweigen widersetzen.
Dies hieße zu begreifen, dass wir unweigerlich Teil sind und uns in
Kontinuität befinden zu den oben beschriebenen Machtverhältnissen: Und
dass wir jene unweigerlich reproduzieren, solange wir nicht die
Verantwortung übernehmen diese rassistischen/postkolonialen
gesellschaftlichen Strukturen grundlegender zu verstehen und offen zu
legen.
Wir können uns (gerade als Verband mit mehrheitsweißen Mitgliedern)
einem Thema wie Flucht und Migration nicht annehmen, ohne Bezug auf uns
selbst zu nehmen und uns permanent kritisch zu hinterfragen – auch wenn
dies unangenehm sein kann.
In diesem Sinne geht es mit unseren Kindern und Jugendlichen einerseits
darum, sie durch kritische inhaltliche Beschäftigung in die Lage zu
versetzen, Positionen im Diskurs zu kontextualisieren sowie
Berichterstattung, Geschehnisse und Argumentationen aus eigener
Reflexion heraus zu hinterfragen. Andererseits wollen wir einen Raum
schaffen, in dem wir uns mit unseren eigenen Positioniertheiten in den
gesellschaftlichen Machtstrukturen befassen und bestehende weiße
Privilegien hinterfragen. Neben einem antirassistischen
Bildungsanspruch ist diese selbstreflexive Praxis außerdem eine
notwendige Voraussetzung für den Anspruch nach einer Öffnung des
Verbandes.
Wir haben den Anspruch, ein Verband für alle Kinder und Jugendliche zu
sein, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem sozialem Umfeld. Doch die
Realität spiegelt dies nicht unbedingt wider. Immer noch organisieren
sich im Verband überwiegend weiße „deutsche“ junge Menschen, aus eher
intellektuellen/bürgerlichen Kontexten.
Wir wollen daher nicht naiv und unbedarft die Öffnung des Verbandes für
geflüchtete Kinder und Jugendliche proklamieren – auch wenn dies
politisch definitiv unser Anliegen ist –, ohne zu betonen, dass wir
diesen Ansprüchen bisher nur sehr begrenzt gerecht werden und
Reflexions- und Handlungsbedarf bezüglich dieser Realität besteht.
In diesem Prozess soll gerade die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf
Rassismus und (Post-) Kolonialismus ein erster Ansatz sein, den Fragen,
die diese Situation aufwirft nachzugehen und das Profil des Verbandes zu
erweitern. Begonnene Entwicklungen – wie die Ermöglichung von
Empowerment-Workshops für Schwarze und POC, sowie Critical
Whiteness-Workshops – sollen weiter diskutiert und ausgebaut werden.
Betroffenen Menschen einerseits Raum für die Reflexion ihrer
Erfahrungen zu geben, ihnen andererseits zuzuhören und ihre
Definitionsmacht anzuerkennen und damit eine sensible, selbstkritische
antirassistische Praxis zu etablieren, muss Teil unserer politischen
Weiterentwicklung sein.
Außerdem und in diesem Sinne sollen Themen wie Antiziganismus und
antimuslimischer Rassismus, die im Rahmen des Diskurses zu Flucht und
Migrationspolitik immer präsenter werden, Teil unserer politischen
Auseinandersetzung werden, um der bestehenden gesellschaftlichen
Realität im Anspruch einer Kritik und Überwindung derselben gerecht zu
werden.
Gleichzeitig wollen wir damit beginnen, formelle Hürden für die
Teilnahme geflüchteter Kinder und Jugendlicher an unseren Maßnahmen
abzubauen, indem wir beispielsweise versuchen, die Einladungen für
Kinderwochenenden mehrsprachig zu verfassen und Zeit in die Elternarbeit
oder je nach Gegebenheiten in die Kooperationsarbeit mit Unterkünften
und anderen Institutionen zu investieren. Ziel soll es sein, mehr
Kindern den Zugang zu unseren Angeboten zu ermöglichen, sowie ein
Zusammentreffen und einen Austausch von Kindern und Jugendlichen zu
ermöglichen.
Bei den theoretischen Auseinandersetzungen über Flucht und Migration
wird immer wieder auch über die Geflüchteten/Flüchtenden geredet. Um
einer Tendenz der Viktimisierung und Objektivierung von Geflüchteten, in
der immer nur über jene, konstruiert als Gruppe der „Geflüchteten“
geredet wird, entgegenzuwirken, sollte ein Austausch verstärkt werden,
der die verschiedenen Menschen mit ihren spezifischen Erfahrungen und
Realitäten in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellt.