Entgrenzte Welten - Von Schwerkraft, Freiheit und südamerikanischen Revolutionären

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Positionen Entgrenzte Welten - Von Schwerkraft, Freiheit und südamerikanischen Revolutionären

In: Avanti Juni 2006

Entgrenzte Welten - Von Schwerkraft, Freiheit und südamerikanischen Revolutionären

Es gibt zwei Arten von Grenzen: die natürlichen und die konstruierten.
Die natürlichen bestehen, während die konstruierten entstehen, immer
wieder. Die, denen daran gelegen ist, suggerieren, dass die von ihnen
konstruierten oder ihnen nützlichen Grenzen natürliche seien. Diese Lüge
zu durchschauen fällt schwer, weil sie Teil des common sense geworden
ist, und dennoch ist es nötig, um Machtverhältnisse aufzudecken und zu
überwinden. Selbstverständlich gibt es Grenzen, die konstruiert sind
und trotzdem sinnvoll, weil sie nicht nur wenigen nützen, sondern allen.
Dazu gehören Vorstellungen der Moral, die z.T. Gesetz geworden sind, und
die das menschliche und menschenwürdige Miteinander garantieren. Seinen
Mitmenschen nicht foltern, nicht ermorden zu dürfen ist so eine Grenze,
die niemals fallen darf. Die Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind,
seine Würde zu verteidigen, sind sinnvoll. Dazu gehören
selbstverständlich auch so prosaische Dinge wie Verkehrsregeln, da sie
dem Schutz des Menschen dienen. Eine Einengung kann darin kein kluger
Mensch ernsthaft erkennen.

Anders als bei konstruierten Grenzen können nicht alle natürlichen
Grenzen überwunden werden und müssen es auch nicht. Natürliche Grenzen
können sowohl transzendental, zumeist jedoch äußerst irdisch sein. So
sind beispielsweise der Vorstellungskraft Grenzen gesetzt, die zu
bestimmen nicht möglich ist, da man die Ausmaße der Seite jenseits
dieser Grenzen nicht abschätzen kann. Das Gros natürlicher Grenzen
allerdings zieht die Physik. Allein die Fesseln, in die der Geist durch
den Körper gelegt ist, engen jedes Individuum ein. Das eine mehr, das
andere weniger, denn nur wer Grenzen spürt, erkennt sie überhaupt. Die
Schwerkraft beispielsweise, die natürliche Grenze schlechthin, zwingt
die Erdenbewohner körperlich am Boden zu bleiben. Andererseits führte
der Drang, sie zu überwinden, dazu, vollkommen neue Grenzen zu
entdecken. Ironischerweise sind alle heute bekannten Möglichkeiten des
Fliegens nur mithilfe des Phänomens Schwerkraft möglich. Um Grenzen zu
überwinden, muss man sie also erkennen, kennenlernen und angreifen.
Dies ist bei natürlichen Grenzen nicht immer möglich oder nötig, bei den

  • von den oben erwähnten Ausnahmen abgesehen - konstruierten Grenzen
    aber sehr wohl.

Natürliche Grenzen zwischen Menschengruppen können aus Gewässern oder
Gebirgen bestehen. Ob auch die Sprache eine natürliche oder eine
konstruierte Grenze ist - man denke an Babylon - , lässt sich wohl nur
mit einem Sowohl-als-auch beantworten. Mit Sicherheit konstruiert sind
in jedem Falle die Grenzen, die Menschen in Nationen oder Rassen
aufteilen wollen. Zwar entbehren diese Grenzen jeglicher Vernunft im
Sinne menschenwürdigen Miteinanders, Nutznießer aber gibt es auch oder
sogar gerade hier. Wem die Aufteilung der Territorien unter den
Mächtigen mit dem absolutem Zugriff auf die jeweiligen ökonomischen und
menschlichen Ressourcen nutzt, ist so offensichtlich, dass man sich nur
wundern kann, dass diese Grenzen bis in die heutige Zeit Bestand haben.
Mehr noch: Waren früher die Clans der Herrschenden abgesteckt und also
begrenzt, scheint es für die Mächtigen der Neuzeit keinerlei irdische
Grenzen mehr zu geben. Die Menschen hingegen bleiben weiter nach den
konstruierten Nationen getrennt, wodurch sich ihr eventuell aufkommender
Unmut über die Unterdrückung auch weiterhin zwangsläufig kanalisiert und
somit begrenzt und leichter bekämpf werden kann. Wollen die Deutschen
nicht zu Hungerlöhnen arbeiten, tun es eben die Inder. So entsteht eine
nach Nationalitäten getrennte Konkurrenzsituation, die wieder nur wem
nützt? Den Indern jedenfalls nicht, da sie jetzt von ebenjenen
ausgebeutet werden, die vorher die Deutschen ausbeuteten.

Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, so Ernesto Che
Guevara, sondern zwischen Oben und Unten. Diese konstruierte Grenze zu
erkennen und einzureißen, muss doch eigentlich viel einfacher sein, als
die natürliche Schwerkraft zu überwinden. Das Fliegen war ein
Menschheitstraum, der Wirklichkeit geworden ist. Warum also sollten
Freiheit und Gleichheit dagegen Träume bleiben?

Dennis