Freiheit des Politischen und Herrschaft der Notwendigkeit
Freiheit des Politischen und Herrschaft der Notwendigkeit
In: Avanti März 2006
Das Panopticon von Bentham |
"Der Arbeitsprozess […] ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von
Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse,
allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige
Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder
Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich
gemeinsam (Marx 1967: 198)."
Die Grundbedingung des Menschen in der Welt besteht in seinem
Stoffwechsel mit der Natur, welchen er mittels der Arbeit vollzieht.
Doch was bedeutet diese Bedingung? Ist der Mensch nur ein animal
laborans, das mittels seiner Werkzeuge und seines Verstandes die Gattung
Mensch erhält? Nach Hannah Arendt stellt der Wandel der Betrachtung des
Menschen vom zoon politikon (Antike) zum animal sociale (seit dem
Mittelalter) eine entscheidende Veränderung in der Betrachtung des
Menschen dar, die in der Moderne zur nicht hinterfragten Grundannahme
geworden ist: Auch Marx stützt sich auf das animal sociale (ebenda:
346).
Der einzelne Mensch steht nicht mehr im Zentrum, vielmehr ist das
Allgemeine, die Gattung Mensch zum Maß aller Dinge geworden. Denn ein
einzelner Mensch kann durch das Herstellen verschiedenster Dinge diese
dem Natürlichen, also dem Kreislauf des einzelnen Menschen mit der Natur
entziehen und an die nächste Generation weitergeben. So bauen die
Menschen nacheinander aufeinander auf, so erzeugen sie eine Kultur und
ermöglichen etwas wie Geschichte. Dies wäre in einem Kreislauf wie einem
Stoffwechsel mit einem Menschen als animal laborans undenkbar und
unmachbar, denn nichts wäre vor oder hinter einem anderen.
Dennoch gibt es auch diesen Kreislauf mit der Natur, den Marx als
unabhängig von jeder Gesellschaftsform sieht, nicht jedoch den Umgang
mit ihm. So war in der Antike alles verpönt, was mit diesem Kreislauf zu
tun hatte, und wurde in die Sphäre des Haushalts verbannt, wo sich
Sklaven und Frauen um diesen Kreislauf kümmerten, die einen durch
Arbeit, die anderen durch Gebären. Der Hausherr, der frei von dieser
Notdurft des Lebens war, nahm als freier Bürger am öffentlichen Leben
teil. Die Existenz eines solchen öffentlichen Lebens, das frei von den
Notwendigkeiten des Lebens war, war für die Antike das den Menschen vom
Tier Unterscheidende. Deshalb galten Sklaven immer weniger als freie
Bürger, obwohl sie zum Teil mehr Besitz und mehr Bildung und weniger
Anstrengungen zu verrichten hatten. Auch Tyrannen galten als nicht frei,
denn "Freisein hieß, frei zu sein von der allen Herrschaftsverhältnissen
innewohnenden Ungleichheit, sich in einem Raum zu bewegen, indem es
weder Herrschen noch beherrscht Werden gab" (Arendt 2002: 43). Ein
solcher Raum, der sowohl frei von der Notdurft des Lebens, als auch von
Herrschaftsverhältnissen ist, existiert in unserer Lebenswirklichkeit
nicht mehr. Dies ist ein Resultat, das sich aus der veränderten Sicht
auf den Menschen als "animal sociale", als gesellschaftliches Wesen
ergab.
Die Entstehung der Gesellschaft wird später von der englischen
Philosophie als ein Zusammenschluss der Menschen zu einem Körper, einer
Familie, einem Haushalt zur Überwindung des "Krieges eines jeden gegen
jeden" (Hobbes 1966: 99) beschrieben. Ihr "summum bonnum", höchstes Ziel
war zunächst der Frieden, später der gemeinsame Wohlstand,
"Commonwealth". Der innerhalb der griechischen Polis so verpönte Bereich
des Haushalts, der im doppelten Sinne unfrei war, nämlich durch die
Herrschaft des Hausherren und die Notwendigkeit des Lebens, hat sich in
der Neuzeit auf den gesamten Bereich des öffentlichen Lebens ausgedehnt.
Das gemeinsame freie Handeln ist dem gemeinsamen Haushalten und damit
der Herrschaft der Notwendigkeiten des Lebens gewichen. Die Stelle, die
innerhalb des Haushalt dem Hausherren zukam, ist durch die Herrschaft
des Königs, des Leviathan ersetzt und wird später durch die Herrschaft
des Niemand abgelöst, nämlich durch das Primat der Wirtschaftlichkeit.
Denn "man bedurfte hier in der Tat der Herrschaft durch Einen nicht
mehr, weil die Stoßkraft des Interesses selbst an ihre Stelle getreten
war. Konformismus, wie wir ihn kennen, wo völlige Einstimmigkeit in
voller Freiwilligkeit erreicht wird, ist nur das letzte Stadium dieser
Entwicklung" (Arendt 2005: 50).
Dieses in der Gesellschaft allen gemeinsame Grundinteresse, das
innerhalb des Haushalts der "Commonwealth", der gemeinsame Wohlstand,
ist, setzt ein "einheitliches Sich-Verhalten" durch, das zur
gesellschaftlich geltenden Norm erhoben, Abweichung als "asozial und
anomal" diskreditiert. Dieses einheitliche Sich-Verhalten ist
Grundbedingung der Ökonomie, denn erst die Berechenbarkeit menschlicher
Angelegenheiten ermöglicht eine anwendbare Theorie des Wirtschaftens.
Alle vorherigen ökonomischen Theorien, die als ethische und politische
Theorien von einem zur Handlung fähigen Menschen ausgingen, konnten sich
nicht als wissenschaftlich durchsetzen, weil eben die Vorhersagbarkeit
der Ergebnisse fehlte.
Auch das marxsche System unterliegt dieser Berechenbarkeit, indem alle
Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft auf zwei Gruppen,
Klassen (Arbeiter und Kapitalisten) reduziert werden. In Marx'
"kommunistischer Fiktion" wird der Widerspruch zwischen den beiden
Klassen und deren unterschiedlichen Interessen aufgelöst, doch der
einzelne Mensch ist vergesellschaftet, d.h. er unterliegt nur noch dem
Grundinteresse der Gesellschaft, dem Commonwealth. Er ist als
gesellschaftliches Wesen voll emanzipiert und sichert dadurch das
Überleben der Gattung Mensch, doch diese vernichtet gerade den
einzelnen Menschen in seiner Fähigkeit, selbst zu handeln, statt
Sich-zu-verhalten. Trotz der Verdrängung des freien öffentlichen Raums
durch die ökonomische Notwendigkeit ist ein gewisser Bereich des
Privaten zurückgeblieben. Dieses Private in der Neuzeit soll in erster
Linie "Intimität (...) gewährleisten" und steht "nicht im Gegensatz zum
Politischen, sondern zum Gesellschaftlichen" (ebenda: 48). Der bekannte
Slogan "Alles ist politisch" drückt somit ein Missverständnis von
Politik aus, dass das Politische mit dem Gesellschaftlichen identisch
sei. Denn ein Leben nur im Gesellschaftlichen muss zwangsläufig
oberflächlich bleiben, weil ihm die Tiefe des Lebens im Verborgenen
fehlt, die nur im Bereich des Privaten zu finden ist.
So tritt die erste Entprivatisierung des Privaten im Kapitalismus auf,
der die Arbeiter aus der Verborgenheit des eigenen Haushalts an die
Öffentlichkeit zwingt, damit sie die Notwendigkeit des Lebens unter den
Augen aller verrichten. Dieses Überwachen der Arbeiter hat den Sinn,
dieselben zu normieren. Der Arbeitsablauf wurde für sie zu einem
Sich-Verhalten-müssen. Dieses öffentliche Arbeiten, das sich heute an
Großraumbüros, Videoüberwachung und elektronischen Versionen der
Lochkarte zeigt, ist eine Folge des Verlusts von Privateigentum.
So war "vor der Enteignung der unteren Schichten der Bevölkerung zu
Beginn der Neuzeit […] die Heiligkeit des Privateigentums immer etwas
Selbstverständliches gewesen" (ebenda: 76). Jeder Mensch konnte an einem
nicht öffentlichen Ort das zum Leben Notwendige verrichten. In dieser
Sichtweise kann Privateigentum nicht mit Privatbesitz und privatem
Reichtum gleichgesetzt werden. Die Eigentums- und Besitztheorien des 17.
Jahrhunderts haben sich die größte Mühe gegeben, den Ursprung des
Eigentums in den Menschen zu verlegen," in das Ureigentum, das der
Mensch an seinem Körper habe und der ihm innewohnenden natürlichen
Kraft, kurz in dem, was Marx dann Arbeitskraft nannte" (ebenda: 84).
Dadurch war es möglich, den Menschen den Ort zu nehmen, der sie vor den
Augen der Öffentlichkeit schützte. Marx ist in seiner Analyse des
Kapitalismus produktbezogen und sieht in erster Linie die Enteignung des
Produkts und des "Mehrwert" sowie eine Entfremdung von dem Produkt im
Arbeitsprozess. "Da vor seinem Eintritt in den Prozeß seine eigene
Arbeit ihm [dem Arbeiter] selbst entfremdet, dem Kapitalisten
angeeignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich
während des Prozesses beständig in fremdem Produkt” (Marx 1967: 596). So
ist der Marxsche Kommunismus auch auf die Wiederaneignung des Produkts
bezogen und nicht auf die Wiedergewinnung einer Sphäre der
Verborgenheit, die ein Verhalten jenseits der Normierung bietet.
Aber Kommunismus kann nur menschlich sein, wenn er nicht ausschließlich
gesellschaftliche Sphäre mit einem sich verhaltenden Gattungswesen
Mensch ist, sondern wenn er dem Menschen als Menschen eine ihm eigene
private Sphäre garantiert, die Bedingung für eine politische Sphäre, die
frei von allen Herrschaftsverhältnissen und der ihnen innewohnenden
Ungleichheit ist.
Julian Holter
Literatur
- Arendt, Hannah: "Vita activa"; Piper Verlag GmbH, München 2002
- Hobbes, Thomas: "Leviathan"; Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Neuwied
und Berlin 1966 - Marx, Karl: "Das Kapital"; Dietz Verlag, Berlin 1967